„Von weitem sieht eine Ehe außerordentlich einfach aus“, hat der Schriftsteller Hans Fallada mal geschrieben. In „Kleiner Mann, was nun?“ Berge, zumal im Mittelgebirge, sehen auch einfach aus. Von weitem. Aber das ist nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen Ehe und Berg.
Am Berg ist man per „Du“. Nachnamen, Lebensgeschichten, Probleme spielen erst einmal keine Rolle. Nur die Herausforderung, die nur gemeinsam bewältigt werden kann. Davor stehen sechs Paare, eingeladen von der Katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatung. Querbeet im Alter, querbeet in der Zeit, in der sie zusammenleben. Mit allen Hochs und Tiefs, die der Alltag so mit sich bringt. Ein Berg von kleinen und großen Problemen, ein Berg von kleinen und großen Freuden.
Doch nun stehen sie vor einem anderen Berg. Ein martialischer Name, aber auf dem Papier eher unspektakulär. „Hexenkanzel“ heißt der Kletterfelsen im Ith, einem Mittelgebirgszug, 40 Kilometer südwestlich von Hannover gelegen.
Seine Höhe: 20 Meter. Zwei Einfamilienhäuser übereinander. Klingt einfach. Von weitem. Beim Blick nah am Klippenrand hinunter ist es das nicht mehr. Auch wenn die Hexenkanzel als guter Einstiegsfelsen für das Klettern gilt.
Erfahrungen mit Klettern am Fels hat niemand
Hinzu kommt jenseits der Ferne: Es hat geregnet. Der Fels ist nass und glitschig. Leichte Rutschgefahr. Wiederum offenbart die Nähe Schwierigkeiten, die vorher nicht absehbar waren. Wie in der Ehe, wie im Alltag.
Aber die Kursteilnehmer sind fest entschlossen. Die Alternative, eine Höhle zu erforschen, wird abgelehnt. Erfahrungen mit Felsklettern hat niemand. Eine Kletterwand auf dem Spielplatz oder in der Turnhalle zählt nicht.
Der Felskopf der Hexenkanzel steht etwas über. Das macht den ersten Abstieg schon zu einer kleinen Mutprobe. Sorgsam sichert die Sozial- und Erlebnispädagogin Heidrun Korder die Teilnehmer. Sie erklärt, worauf es ankommt: „Die Beine fest gegen den Felsen stellen und dann nach hinten fallen lassen. Und keine Angst. Alles ist sicher.“ Schließlich sind oben die Seile in Haken eingeklinkt, die fest im Fels verankert sind. Und unten sichert der Partner.
Trotzdem: Es kostet Überwindung. Und die eine oder der andere braucht einen zweiten oder dritten Anlauf. Oder eine Aufmunterung. Oder wählt zunächst den Weg von unten.
Auch da hat die Hexenkanzel ihre Tücken: „Es gibt nicht viele Möglichkeiten zum Festhalten für die Hände oder zum Abstützen für die Füße“, erläutert Heidrun Korder. Der Weg muss schon vorausschauend geplant werden.
Erschöpft, aber glücklich nach der Anstrengung
Nach vier Stunden Klettern gibt es ein gemeinsames Gefühl bei den Paaren: erschöpft, aber glücklich. Eine Herausforderung wurde gemeinsam gemeistert. Anders hätte es nicht geklappt. Genau darum geht es beim Angebot. Nicht um Beziehungsprobleme zu wälzen oder zu lösen, nicht um die Belastungsfähigkeit einer Ehe auf die Probe zu stellen, sondern die Hexenkanzel zu bezwingen: „Wir möchten Paaren eine neue Erfahrung bieten“, betont Bettina Bockwoldt von der Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Bistum Hildesheim. Vor allem eine Erfahrung, die Paare nur gemeinsam machen können: „Und wer weiß, vielleicht entdecken sie Seiten an sich, die sie bisher noch nicht kannten.“
Hat sich das erfüllt? „Die Aktion hat uns über unsere eigenen Grenzen gehen lassen und gezeigt, dass mehr möglich ist, als wir manchmal denken“, sagt beispielsweise Janina. Als Paar war es einfacher den Mut aufzubringen und den Berg zu beklettern: „Es hat uns froh und glücklich gemacht, so etwas gemeinsam geschafft zu haben.“ Für Ehemann Florian war das Erlebnis „für uns ein Anstoß wieder mehr gemeinsam zu machen und auch mal neue Dinge auszuprobieren.“
Auch für Claudia war es wichtig, eine neue Erfahrung gemeinsam mit ihrem Ehemann zu machen: „Besonders, weil ich in der Lage war, ihn zu sichern“, sagt sie. Der Größenunterschied hat ihr doch vorher Bedenken gemacht. „Auch fand ich es toll, dass ich mich absolut sicher fühlte, während ich kletterte und von meinem Mann gesichert wurde.“
Über sich selbst hat Claudia auch etwas herausgefunden: „Ich habe gemerkt, es fällt mir einfacher zu handeln, wenn ich nicht zu viel Zeit habe, das Für und Wider abzuwägen.“ Als die Wartezeit vor dem Abseilen einen Tick zu lange dauerte, entwickelte sich Angst vor der eigenen Courage. Beim Aufstieg dagegen kam sie gleich an die Reihe: „Keine Zeit, lange darüber nachzudenken, was theoretisch alles passieren kann“, beschreibt Claudia. Im Nachhinein sei sie wirklich froh darüber, einfach angefangen zu haben.
Genau das verrät der Berg: Der Fels vermittelt neue Einsichten – und vielleicht auch alte Gewissheiten: dass man sich aufeinander verlassen kann.
„Wir verstehen unser Angebot keinesfalls als Test für den Beziehungsstatus“, stellt Bettina Bockwoldt mit Nachdruck heraus. Nichts liege ihr ferner. Aber Bergsteigen und Partnerschaft haben eine Menge gemein. Vor allem müssen die Partner sich auch nichtsprachlich verständigen: „Das Seil, das sie verbindet, ist wie ein Kommunikationskanal.“ Das Sicherheitsbedürfnis des anderen ist zu respektieren. „Am Seil müssen die Partner immer herausfinden, was der andere gerade braucht.“ Übliche Routinen helfen da wenig weiter.
Das Seil wird zum Sinnbild der Partnerschaft
„Man sagt doch leichthin, dass es zwischen Mann und Frau ein unsichtbares Band der Partnerschaft gibt – hier wird es sichtbar“, meint Bettina Bockwoldt. Ein anderer Blickwinkel werde durch die Kletterpartie möglich – auf sich selbst und auf die eigene Partnerschaft: „Etwas, was sonst im Alltag leicht untergeht.“ Neues entdecken, vielleicht Ängste überwinden und weder sich selbst noch den Partner hängen lassen. Klingt einfach. Von weitem.