Die Erlebnisse von Flucht und Vertreibung beschäftigen viele der Betroffenen. Meist hatten sie alles erfolgreich vergessen, bis jetzt immer nur nach vorne geschaut und es so im Leben auch zu einigem gebracht. Nun brechen aber gerade in denen, welche diese Zeit nur als Kinder miterlebt haben, seelische Störungen und alte Erinnerungen wieder auf.
„Wenn ich im Fernsehen Bilder von Vertreibung und Flucht sehe, bekomme ich häufig Herzrasen. Mir schnürt es dann richtig die Kehle zu. Da laufen in meinem Kopf die Erinnerungen wie Filme ab: Ich sehe, wie im Lager Lamsdorf Polen meine Mutter und Onkel Brumma erschießen, wie sie einer Nachbarin aus unserem Dorf mit einem Spaten den Kopf spalten“, sagt Agnes Rieger aus Bokeloh, die im Jahr 1945 als 14-Jährige ihren Heimatort Steinaugrund (Ligota) in Oberschlesien verlassen musste
Wie schlimm diese Erlebnisse auch sind, so gehört Agnes Rieger gemeinsam mit den Menschen, die beim Duft von frischem Brot einen unbezähmbaren Heißhunger entwickeln oder die bei den Rückblenden zum Attentat auf das World-Trade-Center der Horror packt, zu den Glücklichen: Sie wissen, worum es geht, woher es rührt und wie damit umzugehen ist.
Viel schwieriger ist es, wenn ein Schlüsselreiz, der zunächst gar nicht zuzuordnen ist, eine rein körperliche Reaktion hervorruft. Dieser Schlüsselreiz kann ganz unscheinbar, eine Redewendung, ein Geräusch, auch ein Duft sein. Wenn die Reaktion auf diesen Schlüsselreiz eine rein körperliche ist – wie Nervosität, Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Migräne, Appetitlosigkeit – wird ein Patient oft längere Zeit fehlbehandelt, bis auch ein Trauma, eine Verletzung seiner Psyche, in Betracht gezogen wird.
Die Traumatisierung eines erheblichen Teils der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist These und Arbeitsfeld des Psychoanalytikers und Alternsforschers Professor Dr. Hartmut Radebold. In seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit“ analysiert er, wie massenhafte Gewalterfahrungen eine ganze Nation traumatisieren und auch noch Einfluss auf die nachwachsenden Generationen nehmen. Mitzuerleben, wie der Vater erschlagen oder die Mutter vergewaltigt wurde, hat bei vielen Kindern zu einem Verlust des Urvertrauens und zu lebenslanger Ängstlichkeit und Misstrauen geführt. Wer bei der Flucht um den Verlust eines nahen Angehörigen nicht trauern, diesen mitunter nicht einmal beerdigen konnte, leidet oft unter unerklärlichen Schuldgefühlen.
Am meisten getroffen hat es die Opfer von Vergewaltigungen. Viele sind so schwer verletzt worden, dass sie nie in ihrem Leben Kinder bekommen konnten oder dass sie zur körperlichen Liebe unfähig geworden sind. Familien und Kirchen haben das Thema konsequent verschwiegen. So weist das Bistumsarchiv nicht ein einziges Dokument irgendeiner Handreichung für die seelsorgerische Betreuung von Vergewaltigungsopfern aus. Es gibt auch keinen Beleg dafür, dass es jemals Thema einer Diözesan-Priesterkonferenz gewesen sein könnte. Pfarrer Josef Barthel (85) in Braunschweig sagt: „Darüber haben wir nie gesprochen.“
Wo doch seelsorgerliche Hilfe für die Frauen und die aus den Vergewaltigungen entstandenen Kinder geleistet wurde, beruhte diese auf dem persönlichen Einsatz des Priesters. Barbara Wienzek (79), ehemalige Pfarrsekretärin in Mandelsloh sagt: „Pfarrer Georg Wengler hat die Hänseleien der Russenkinder sofort unterbunden, indem er sich an Eltern und Lehrer wandte. Der Großteil der Frauen, die ein Russenkind hatten, ist in den 50er Jahren mit den Kindern in anonyme westdeutsche Großstädte gezogen. Aber es gibt in den Schlesierdörfern nordwestlich von Hannover noch eine Reihe von jetzt 60-jährigen Russenkindern. Wir alten Schlesier wissen das, halten es aber vor den Einheimischen geheim.“
Bei der Bewältigung des erfahrenen Leids, steht sich die Generation der jetzt ins Rentenalter gekommenen Flüchtlings- und Vertriebenenkinder oft selbst im Weg. Sie sind allen Ärzten bekannt als die Meister im Zähnezusammenbeißen, Verdrängen und Nach-Vorne-Gucken. So unterlassen sie gern die Krebsvorsorge-Untersuchungen, gehen sie erst dann zum Arzt, wenn es nicht mehr auszuhalten ist, oder verringern die Einnahme der vorgeschriebenen Medikamente, getreu dem Motto: Man ist so krank, wie man sich fühlt.
Mit dem Rentenalter, das sie nun erreicht haben, ist die Verdrängung durch immer neue Aktivität nicht mehr so gut möglich. Die Kinder sind erwachsen und haben das Haus verlassen. Das Einfamilienhaus ist abbezahlt und der Garten ist gepflegt. Jetzt pocht die Seele an die Tür des Bewusstseins und will, dass man sich um sie kümmert.