Aus dem Überlebenskampf in den Vertreibungsgebieten und den Gefangenenlagern werden die beeindruckendsten Zeugnisse früher Ökumene geschildert. Eines von ihnen ist das Wirken des Pfarrers von Bunzlau (Boleslawiec), Paul Sauer.
Es ist ein wunderschöner Sommerabend, als am 27. Juni 1946 um 20.30 Uhr auf dem Friedhof der niederschlesischen Stadt Bunzlau ein Sarg zu Grabe getragen wird. Darin liegt Pfarrer Paul Sauer, Onkel der Eckersdorfer Pfarrsekretärin Barbara Wientzeck. Sie selbst lebt nach ihrer Vertreibung nun schon seit vier Monaten in Mandelsloh bei Nienburg. Pfarrer Paul Sauer hat nach zwei Monaten Haft im Folterkeller des polnischen Staatssicherheitsdienstes ausgelitten. Dort hat man ihm fast nichts zu essen und zu trinken gegeben. Unter dem absurden Vorwurf, er sei Mitglied einer gegen Polen gerichteten bewaffneten Untergrundgruppe namens „Freies Deutschland“, war er am 30. April 1946 verhaftet worden. Der evangelische Superintendent Pape läutet zur Beerdigung die Glocken seiner Kirche und wird deswegen von der polnischen Miliz verhaftet und zusammengeschlagen.
Dass der polnische Staatssicherheitsdienst den bewusstlosen Priester am 24. Juni auf einer Tragbahre ins Bunzlauer Krankenhaus schaffen lässt, hat wohl damit zu tun, dass man ihn für den späteren Schauprozess verwenden will. Der polnische Arzt Dr. Herbert Urbanczyk und einige deutsche Nonnen vom Orden der Grauen Schwestern von der Heiligen Elisabeth kümmern sich um ihn. Weil er infolge des Flüssigkeitsmangels völlig ausgetrocknet ist, bekommt er eine Kochsalzlösung injiziert und Tee mit Cognac verabreicht. Er schlägt noch einmal die Augen auf und sagt nach Aussage von Christa Feige, einem katholischen Gemeindemitglied: „Jetzt freue ich mich auf meine ewige Seligkeit.“ Dann segnet er noch die Umstehenden. Zum Schluss des Kreuzzeichens schlägt ihm sein rechter Arm herunter, er verliert wieder das Bewusstsein und stirbt.
Weshalb Superintendent Pape die Glocken läuten lässt und die mehrheitlich protestantischen Bunzlauer sich noch heute voller Dankbarkeit an den katholischen Pfarrer Paul Sauer erinnern, hat mit dessen außergewöhnlichem Einsatz für die Ökumene zu tun. Der im Jahr 1892 im oberschlesischen Bielitz (Bielsko) geborene Bauernsohn predigte aufgrund eines im Ersten Weltkrieg erlittenen Lungenschusses zwar mit viel zu leiser Stimme. Aber er war ein Praktiker der Seelsorge, technisch begabt und sehr musikalisch. Er fotografierte viel, beherrschte fünf Musikinstrumente, erteilte Orgelunterricht und spielte, seit er im Jahr 1938 die einzige katholische Pfarrei Bunzlaus übernommen hatte, im evangelischen Kirchenorchester Cello. Gegenüber den Nazis hielt er nicht hinter dem Berg, betreute seelsorgerisch auch die kriegsgefangenen Franzosen, Italiener und Polen. Im Jahr 1942 kam er wegen „staatsabträglicher Anmerkungen zum Adventshirtenbrief Kardinal Bertrams“ für drei Wochen in „Schutzhaft“, wurde später wieder freigelassen.
Vom Februar 1945 bis zum Herbst des gleichen Jahres waren die Protestanten der zu 90 Prozent evangelischen Stadt in einer Notlage: Es gab keinen evangelischen Geistlichen mehr in Bunzlau. Da hat Paul Sauer geholfen. Mit Unterlagen der „Bekennenden Kirche“, die er aus dem Schutt des zerstörten Pastorenhauses rettete, hielt er im Konfirmandensaal Andachten und unterrichtete sogar die Konfirmanden. Vom 12. Februar 1945, als die Russen in die Stadt eindrangen, bis zum 12. Juni 1945 führte er ohne Ansehen der Konfession 500 christliche Beerdigungen durch.