Flucht und Vertreibung - Hintergrund

200.000 katholische Christen lebten vor dem Zweiten Weltkrieg im Bistum Hildesheim. Durch Flucht und Vertreibung aus dem Osten Deutschlands stieg ihre Zahl in wenigen Monaten auf 700.000 – eine unglaubliche Herausforderung. Wie sie gemeistert wurde, schildert der Historiker Professor Hans-Georg Aschoff.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges stellte einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Bistums Hildesheim dar. Durch die Vertriebenen und Flüchtlinge verdreifachte sich die Zahl der Katholiken. Vergeblich bemühte sich Bischof Joseph Godehard Machens (1934-1956) bei den alliierten Behörden um Berücksichtigung der konfessionellen Eigenheiten bei der Einweisung der Vertriebenen; für das Bistum entstanden dadurch erhebliche Probleme bei der Eingliederung der zugewanderten Katholiken.

Während sich die Binnenwanderung vor und während des Krieges in erster Linie auf die Industriezentren Hannover, Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg konzentriert hatte, verteilte sich nun der Flüchtlingsstrom über das ganze Gebiet des Bistums. Die Flüchtlingsgemeinde wurde seit 1945 der vorherrschende Typ der katholischen Pfarrei.

Die Integration der Flüchtlinge wurde dadurch erschwert, dass der größte Teil der Vertriebenen aus konfessionell homogenen Gebieten kam und nun nicht nur in eine landsmannschaftlich anders geartete Umwelt versetzt, sondern auch mit der ihm unbekannten Situation der Diaspora konfrontiert wurde. Die Bistumsleitung wurde zu einem raschen Handeln nicht zuletzt deshalb gezwungen, weil erhebliche Verluste an katholischen Gläubigen zu befürchten waren.

Auf der anderen Seite konnte eine katholische Gemeinde den katholischen Flüchtlingen ein Stück ihrer verlorenen Heimat ersetzen und ihnen das Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Zu den ersten Maßnahmen der Bistumsleitung gehörten die Erfassung der zugewanderten Katholiken, die Anstellung, Bevollmächtigung und gerechte Verteilung der Geistlichen aus den Ostgebieten, die Schaffung provisorischer Gottesdiensträume und notdürftiger Dienstwohnungen, wobei in vielen Fällen lediglich Notunterkünfte zur Verfügung standen. Häufig war nur durch das Entgegenkommen der evangelischen Kirche, die ihre Gotteshäuser zur Verfügung stellte, die Möglichkeit zur Messfeier gegeben; allerdings mussten aus Rücksicht auf den evangelischen Hauptgottesdienst ungünstige Zeiten in Kauf genommen werden mussten. Im Bistum Hildesheim wurden nach Kriegsende etwa 1000 evangelische Kirchen mitbenutzt.

Der Bau erst von Notkirchen und Kapellen, dann von festen Kirchen war eine große logistische und finanzielle Herausforderung. Vielerorts spendeten die Katholiken und packten nach Feierabend selbst mit an – nicht ohne Grund, denn zum einen sahen sie in ihrer eigenen neuen Kirche ein Stück der verlorenen Heimat. Zum anderen halfen die gemeinsamen Anstrengungen bei der Integration. Bischof Machens ließ bis zu seinem Tod 1956 etwa 100 neue Kirchen und Kapellen bauen; unter seinem Nachfolger, Bischof Heinrich Maria Janssen (1957-1982), kamen weitere 270 hinzu.

 

Eine besonders schwere Belastung war für die Seelsorge neben der Kirchennot der Priestermangel. Zwar kamen mit den Flüchtlingen auch Geistliche aus dem Osten in die Aufnahmegebiete; ihre Anzahl betrug im Bistum Hildesheim bis 1947 etwa 160. Da jedoch ein großer Teil der Priester in den Ausweisungsgebieten zurückblieb oder in katholische Gegenden Westdeutschlands zog, verschlechterte sich gerade in den Diözesen mit umfangreichen Diasporagebieten die Relation von Priestern und Gläubigen. Im Bistum Hildesheim entfielen 1940 auf einen Priester 798 Katholiken; 1950 waren es 1 428. Und auch die immer mehr Pfarrgemeinden mussten betreut werden. Ihre Zahl stieg von 194 im Jahr 1946 auf 362 (1980)

Ein planmäßiger Kirchenbau und eine systematische Ausweitung der Pfarrorganisation setzten erst im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Währungsreform ein. Eine wichtige Voraussetzung war die Einführung der Diözesankirchensteuer, die 1949 die Ortskirchensteuer ablöste. In Gebieten mit geringem Steueraufkommen, wozu in der Regel die Diaspora gehörte, konnten nun neue Seelsorgestellen schneller eingerichtet und leichter finanziert werden. Dennoch blieben die finanzschwachen niedersächsischen Diasporadiözesen in der Folgezeit auf Unterstützungen von außen angewiesen. Diese konnten einmal in der Form eines überdiözesanen Finanzausgleichs geschehen; vor allem aber wurden sie durch den Bonifatiusverein geleistet.

Der Bonifatiusverein (seit 1968 „Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken“) war nach 1950 das bedeutendste katholische Hilfswerk in Deutschland. Mit seiner Unterstützung wurden zwischen 1945 und 1974 über 3000 Kirchen, Kapellen und Gottesdienststationen errichtet und bereits vor der Währungsreform über 200 kriegszerstörte Kirchen wiederaufgebaut. Die Zuwendungen, die die Diözese Hildesheim vom Bonifatiuswerk von der Währungsreform bis zum Beginn der 1980er Jahre erhielt, betrugen knapp 100 Millionen DM. Allein im Zeitraum von 1962 bis 1973 gewährte das Bonifatiuswerk für das Bistum Hilfen für 111 Kirchenneubauten, 4 Kirchenerweiterungen, 5 Pfarrhäuser und 4 Gemeindezentren. Durch seelsorgliche Betreuung leisteten die Kirchen und auch das Bonifatiuswerk einen wesentlichen Beitrag zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in die westdeutsche Gesellschaft und zu deren Konsolidierung.

Unser Bistum: 
Hildesheim, Niedersachsen